Was ist Zufall. Die
Rolle des Zufalls in der Naturwissenschaft
Der Begriff Zufall wird in der Wissenschaft unterschiedlich
verwendet. Meistens beschreibt er das Fehlen von Wissen
bezüglich Sachverhalten. Wer beispielsweise nicht weiss, dass seine
Armbanduhr mit einer Batterie läuft, für den geschieht das
Stehenbleiben der Uhr aufgrund leerer Batterie unerwartet und daher
zufällig.
Dieses Beispiel lässt sich auf die gesamte Technik, und sogar
auf die gesamte Lebenswelt übertragen: Wann kommt der Briefträger
heute? Wahrscheinlich irgendwann zwischen 13:00 und 14:00, weil es
bisher immer so war. Für den Briefempfänger ist das Erscheinen des
Briefträgers ein zufälliges Ereignis, das sehr wahrscheinlich zwischen
13:00 und 14:00 stattfinden wird.
Fragten wir um 12:00 den Briefträger, dann könnte er das Zeitfenster
wahrscheinlich eingrenzen, z.B. zwischen 13:15 und 13:30.
Fragten wir ihn um 13:20, dann würde er z.B. zwischen 13:25 und 13:30
angeben.
Hätten wir um 13:20 alle Informationen über den Verkehr innerhalb des
Zustellgebietes, über den
technischen Zustand des Fahrzeuges des Briefträgers, alle Informationen
über die Empfänger
derjenigen Briefe, die er davor zustellen wird, alle Pläne und
Absichten aller direkt und indirekt beteiligter Personen, usw.
zur
Hand, dann könnten wir das Zeitfenster sehr viel kleiner angeben, z.B. zwischen 13:26 und 13:27, denn je mehr wir
wissen, desto weniger unvorhergesehene Ereignisse sind zu erwarten.
Dieses Beispiel zeigt, dass die Rolle
des Zufalls durch den Erwerb von zusätzlichem Wissen grundsätzlich
verringert werden kann.
Für weitaus komplexere Strukturen wie z.B. der
Bundesbahn gilt dasselbe: In diesem System gibt es Stellen, die
Wahrscheinlichkeitsaussagen machen können, wann ein bestimmter Zug wo
eintreffen wird. Theoretisch liesse sich das zu jeder Zeit sehr genau
angeben, wenn man nur möglichst viele relevante Informationen zur Hand
hätte.
Ähnliche Sachverhalte findet man auch in allen Bereichen der Technik
vor. Als Endverbraucher besonders intensiv erlebt man dabei das
Versagen von Technik. Da der Endverbraucher selten bis nie Einblick in
die von Ihm verwendete Technik hat, wird ihn das Versagen derselben
fast immer unerwartet, und daher zufüällig treffen.
Das Bestreben, ausfallsichere Technik auf den Markt zu bringen,
ist
stark unterschiedlich ausgeprägt, und hängt unter Anderem von Branche
und potentiellen Gefahren ab, die mit einem Ausfall einher gehen. Je
mehr Aufwand in die Entwicklung eines bestimmten Produktes gesteckt
worden ist, und je ausgereifter das Produkt ist, desto
unwahrscheinlicher ist es, dass es ausfallen wird. Fällt es dennoch zu
oft aus (was für den Endverbraucher ja zufällig geschieht), dann wird
der Hersteller nach der Ursache forschen, und diese im Normalfall auch
herausfinden.
Der Hersteller, der die Ursache nun kennt, wird die
bisherigen Ausfälle von nun an als systematische Ausfälle betrachten,
die retrospektiv in gewissen Grenzen vorhersehbar waren. Nachdem er die
Ursache abgestellt hat, wird das Produkt seltener ausfallen.
Dieser Prozess des Abstellens von Fehlern wird irgendwann die
Möglichkeiten und Fähigkeiten des Herstellers übersteigen, und zwar
sowohl in technischer, als auch in finanzieller Hinsicht, denn
irgendwann fällt das Produkt so selten aus, dass mit den zur Verfügung
stehenden Mitteln keine wirksame Ursachenforschung mehr betrieben
werden kann.
Alle Beispiele zeigen,
dass die Rolle des Zufalls von technologischen oder finanziellen
Gegebenheiten abhängt, es sich jedenfalls um nichts Grundlegendes zu
handeln scheint (wie beispielsweise die Nicht-Überschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit,
die kein technologisches Problem ist, sondern eine grundlegende
Eigenschaft der Natur ist). Hätte man nur genügend
Informationen zur Hand, dann könnte man beliebig sichere
Vorhersagen machen, und die Rolle des Zufalls theoretisch beliebig
verkleinern.
Die Frage liegt nahe, ob "objektiver" Zufall, also Zufall, den man
grundsätzlich nicht bezwingen kann, existiert.
Gibt es also eine Grenze, die nicht nur praktisch mit noch so feinen technischen
Mitteln grundsätzlich nicht überschritten werden kann, sondern die sogar theoretisch nicht überschreitbar ist?
Ist Zufall, und damit die grundsätzliche Nichtvorhersagbarkeit, ein Wesenszug der Natur?
Die Grenze zum Zufall lässt sich mit technologischen Mitteln schon
lange bis in mikroskopisch kleine Dimensionen verschieben, das heisst,
wenn es Mechanismen gibt, die objektiv zufällig sind, dann muss man sie
in sehr kleinen physikalischen Dimensionen suchen.
Die Vermutung, dass es objektiven Zufall tatsächlich gibt, besteht
spätestens seit Etablierung der Quantenmechanik,
die ja durch und durch "nur" mit Wahrscheinlichkeiten operiert.
Andererseits war die Quantenmechanik, gerade wegen ihrer durchgehend
wahrscheinlichkeitstheoretischen Natur, lange Zeit damit konfrontiert,
keine endgültige Theorie zu sein: Diese Theorie sei nur deshalb
wahrscheinlichkeitstheoretischer Natur, weil man die "wahren", sich
dahinter verbergenden Mechanismen noch nicht gefunden hat. Obendrein
seien diese
Wahrscheinlichkeiten zudem noch "von vorne herein" in die Theorie
"hineingebastelt" worden (Schrödingers Katze
zeigt das sehr anschaulich). Die Quantenmechanik sei demnach nichts
weiter als eine Beschreibung der mikroskopischen Sachverhalte mit den
zur Verfügung stehenden (unzulänglichen) Mitteln ihrer Zeit.
Diese Ansicht kann man als
Chauvenismus bezeichnen, denn dahinter steckt der Wunsch, alles für
beherrschbar zu halten.
Die Frage nach objektivem Zufall hängt unmittelbar zusammen mit der so
genannten Bellschen Ungleichung
(1964).
Um es kurz und einfach zu fassen: Mit Hilfe dieser Ungleichung werden
wir endgültig gezwungen, mindestens
einen der folgenden beiden
Sachverhalte als real existent anzuerkennen:
1. Es gibt objektiven Zufall
- --> Die Quantenmechanik wäre
dann eine so genannte nicht-realistische
Theorie:
Messergebnisse wären demnach grundsätzlich nicht beliebig genau
vorhersagbar, und liegen insbesondere auch nicht versteckt vor, bevor
sie gemessen werden. Messwerte werden durch die Messung also nicht enthüllt,
sondern sozusagen erzeugt.
2. Es gibt "spukhafte Fernwirkungen"
- Das waren Einsteins Worte.
--> Die Quantenmechanik
wäre dann eine so genannte nicht-lokale
Theorie:
Es gäbe physikalische Mechanismen, die, ohne dass Entfernungen im Raum
überwunden werden müssten, sich an mehreren Stellen, mit beliebig
grossen Entfernungen untereinander, gleichzeitig in zusammenhängender
Weise manifestieren.
Punkt 1 ist in der Fachwelt anerkannt. Dieser Punkt strapaziert das menschliche Vorstellungsvermögen
nebenbei kaum: Man muss lediglich anerkennen, dass die Natur keine lenkende Instanz kennt. (Die Natur schert sich
sowieso nicht um das menschliche Vorstellungsvermögen).
Punkt 2, heute Quantenteleportation
genannt, strapaziert das menschliche
Vorstellungsvermögen dagegen sehr stark, wird
in der Physik aber nur wenig diskutiert, denn die experimentelle
Ergebnislage zeigt seit langem, dass solche spukhaften Fernwirkungen
ein "quantenmechanischer Standardfall" (also nichts besonderes) sind.
Seit Ende des 20.
Jahrhunderts gilt Anton Zeilinger von der Universität Wien als führend
in der gezielten Herbeiführung von Quantenteleportationen.
Die weiter oben formulierte
Aussage,
dass man von beiden wenigstens eines anerkennen müsse (und das jeweils
Andere ggfs. ablehnen könne), gilt nur, wenn man lediglich die Bellsche
Ungleichung kannte.
Stand 2019 spricht alles dafür, und
nichts dagegen, dass die Quantenmechanik sowohl nicht-realistisch, als
auch nicht-lokal ist, es demnach sowohl objektiven Zufall als auch
"spukhafte Fernwirkungen" tatsächlich gibt.
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